Vom Todesstreifen zum Wandergebiet

Alex schnüffelt sich bis zum Eisernen Vorhang. Dann trabt er mit wenigen Schritten locker herüber von Thüringen nach Hessen. Bis 1989 wäre das nicht möglich gewesen. Da wir in Thüringen unsere Wanderung starten, wären wir höchstwahrscheinlich nicht einmal bis an den über zwei Meter hohen Zaun herangekommen – geschweige denn hindurch. Vorher hätten uns im schlimmsten Fall die Wachposten erschossen. Minen gab es an dieser Stelle nicht, zumindest, soweit ich weiß. Ein Stück der ehemaligen innerdeutschen Grenze steht hier noch, zwischen dem thüringischen Ifta und dem hessischen Lüderbach.

Während Hund überall seine Nase hereinsteckt und sich nur für die aktuellen Gerüche interessiert und weniger für die Geschichte, bin ich etwas ehrfürchtig. Als Bremerin kann ich mir nur schwer vorstellen, wie es war, im Grenzgebiet zu leben, das teils auch als Todesstreifen bezeichnet wurde. Von der DDR habe ich früher nie wirklich etwas mitbekommen, erst als Alex und ich nach Hessen zogen. Seitdem werde ich immer wieder mit dem Thema konfrontiert. Immer wenn ich von Hessen nach Thüringen fahre, sehe ich eines der Schilder, die an die Teilung und die Grenzöffnung erinnern. Mit Datum und Uhrzeit. Bei dem heutigen Wanderparkplatz „Baumkreuz/B7“ fiel der Grenzzaun am 18. November um 6 Uhr.

BAUMKREUZ als Erinnerung an die deutsche Teilung

Als Fernsehreporterin in Thüringen habe ich ebenfalls ab und zu mit der DDR zu tun. Sei es, weil ein Jahrestag des Mauerbaus oder -falls ansteht, eine Ausstellung sich damit beschäftigt oder dergleichen. Zusätzlich wandern mein Hund Alex und ich regelmäßig im Grenzgebiet oder machen Ausflüge, bei denen wir unweigerlich auf Informationsschilder und/oder Überbleibsel der DDR stoßen, wie bei unserem Ausflug zur Burgruine Brandenburg (zum Blogartikel „Burgruine Brandenburg: Mit Hund ins Mittelalter“).

Nun sind wir zum zweiten Mal am Wanderparkplatz „Baumkreuz/B7“. Nachdem Alex zwischen den Bundesländern hin und her lief, wandern wir den Berg hinauf. Ein schmaler Pfad schlängelt sich entlang der Reste des Eisernen Vorhangs, wie die ehemalige innerdeutsche Grenze früher auch genannt wurde. 1990 wurden hier zwei sich kreuzende Alleen gepflanzt: links und rechts neben dem Grenzzaun eine dreireihige Eschenallee und entlang der B7 eine Lindenallee. Sie bilden das Kunstwerk BAUMKREUZ zusammen mit dem Grenzzaun, der zu den längsten original erhaltenen Abschnitten in Deutschland gehört. Jedes Jahr im November kommen Menschen aus ganz Deutschland, um weitere Bäume zu pflanzen und die Allee zu pflegen.

Uns kommt ein Pärchen entgegen, gut gelaunt und leichtfüßig. Schon komisch, wie unbeschwert sie und wir hier unterwegs sind, genauso wie mittlerweile vermutlich tausend andere. Früher undenkbar. Ließ hier vielleicht sogar jemand sein Leben? Es sollen mindestens 238 Menschen im Grenzgebiet gestorben sein, als sie versuchten, die DDR zu verlassen. Das konnte zumindest der Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin dokumentieren, laut dem Artikel „Todesopfer des DDR-Grenzregimes. Eine Recherche“ von 2019.

Oben angekommen, blicke ich über die thüringische Seite. Hinunter auf die Felder wieder hinauf zu den nächsten bewaldeten Hügeln. Alex schnüffelt währenddessen die Sitzbank ab. Das macht er immer. Scheinbar hinterlassen die menschlichen Hintern und Rücken besonders spannende Informationen für seine Hundenase.

Mit Hund wandern, wo einst die Grenztruppen patrouillierten

Über den Kolonnenweg wandern wir hinab. Er besteht aus witterungsbeständigen Lochplatten, die von Gräsern und anderen Pflanzen durchwachsen sind. Rund 1 Million Betonplatten wurden verbaut. Zu Zeiten der DDR patrouillierten hier die Grenztruppen entlang. Zwischen Kolonnenweg und Grenzzaun oder Grenzmauer befand sich der Kontrollstreifen, der aus Gras, Bäumen und/oder Gebüschen besteht. Insgesamt war die innerdeutsche Grenze knapp 1400 Kilometer lang.

Die Stiftung Naturschutz Thüringen hat rund 600 Kilometer komplett erfasst, wobei 470 Kilometer mit Lochplatten erhalten sind. 130 Kilometer wurden verschottert oder von der Natur zurückgeholt. Mein Hund und ich wandern sowohl über Beton als auch über dessen grünen Eroberer.

Alex trabt leichtpfotig voran, stoppt immer wieder kurz, um seine Hundenase ins Gras oder an einen Zweig zu stecken. Während ich langsam Schritt für Schritt gehe. Blöderweise habe ich meine alten Wanderschuhe an, deren Profil längst nicht mehr den Namen verdient, sondern eher einem Flachland gleicht. Das, gepaart mit meiner mangelhaften Trittsicherheit, macht Bergabwandern zu einer kleinen Herausforderung. Zumal der Weg vom Regen noch etwas rutschig ist. Aber ich gelange ebenfalls sicher nach unten.

Abgebrochene und abgestorbene Baumstämme liegen wie bei dem Spiel Mikado kreuz und quer zu unserer Rechten. Das wirkt wie ein Weltuntergangsszenario: komplett zerstörte Natur und die Menschheit ausgerottet. Alex und ich sind die einzigen Überlebenden. Ok, die Insassen des Autos haben auch überlebt, das ich in einigen Metern Entfernung höre. Filmriss.

Wir wandern steil

Zwar befinden wir uns noch auf dem Kolonnenweg, aber nun hat die Natur den Boden fest im Griff. Das gilt genauso für die Steinmauer, die den Weg über den Bach ziert. Hellgrünes Moos hat sie großflächig zugedeckt. Dahinter entdecke ich eine fast vergessene Herausforderung: Der grün durchwachsene Beton des Kolonnenwegs geht steil. Als Alex und ich das letzte Mal hier wanderten, hatte ich den Teil für den Rückweg ausgewählt, sodass wir ihn hinabgingen. Bergab gehört aber nicht zu meinen Wanderstärken, und obwohl der Streckenabschnitt fast senkrecht erscheint, wagen wir es dieses Mal hinauf.

Meinen Oberkörper lehne ich nach vorne: Sieht vielleicht blöd aus, aber macht es gefühlt einfacher. Schon nach den ersten Schritten, zwickt es in meinen Waden. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal einen so steilen Weg hinaufgewandert bin. Sofort muss ich aber an unseren Roadtrip durch die Slowakei denken, den wir mit Kerstin und ihren Rabauken alias „Buddy schreibt“ gemacht haben (mehr dazu gibt es in meinem Blogartikel „Ahoj Slowakei: Du bist so wunderschön, aber…“). Kerstin und ich hatten oft geflucht, auf unseren Wanderungen, weil es uns so vorkam, als würde es immer nur steil bergauf gehen. Der harte Boden erinnert mich aber schnell wieder daran, dass ich nicht in der Slowakei bin, sondern am Grünen Band.

Vom Todesstreifen zum Biotop

Auf rund 12.000 Kilometern hat sich die längste Biotopkette in Europa entwickelt, die verschiedene Naturschutzgebiete verbindet. Das Grüne Band schlängelt sich von Travemünde an der Ostsee bis zum Dreiländereck bei Hof in Bayern. Zu Zeiten der DDR konnte sich neben der deutsch-deutschen Grenze die Natur ausleben. Denn der einstige Sperrbezirk war fast unberührt und so konnten sich zahlreiche Tier- und Pflanzarten ausbreiten. Das Grüne Band besteht unter anderem aus Altgrasfluren, Heiden, Feuchtgebieten, Bachläufen und Wäldern. Zu den Bewohnern gehören Braunkehlchen, Libellen, Otter, Fledermäuse und Wildkatzen. Um diesen Naturraum zu erhalten und einen „grünen Streifen des Friedens“ zu schaffen, wurde das Naturschutzprojekt auf Initiative des BUNDs ins Leben gerufen.

Auf halber Strecke nimmt die Steigung etwas ab, zumindest für ein paar Meter. Ich nutze das unebene Zwischenplateau, um kurz zu verschnaufen. Das Wort könnte nicht passender sein: Die Luft verlässt so schnell und laut meine Nase und meinen Mund, sodass ich nicht einmal mehr die Vögel singen höre. Alex steht vor mir. Seine Hundeaugen schauen mich leicht hämisch an. „Pah, Du hast gut lachen mit Deinen vier Beinen“, denke ich. Trotz meiner temporären Erschöpfung bereue ich es nicht, dieses Mal hier heraufzuwandern statt hinab. Ich freue mich vielmehr über die sportliche Betätigung und über den tollen Ausblick über die thüringische, hessische Hügellandschaft.

Wandern mit Hund, heißt auch, auf den Hund zu achten

Meine Atmung hat sich zwar noch nicht vollständig normalisiert, aber wir gehen trotzdem weiter. Endspurt für die letzten Meter der „Supersteigung“. Eben schien er noch über mich zu lachen, jetzt trottet Alex nur noch langsam hinterher. Mute ich ihm mit dieser Wanderung vielleicht doch zu viel zu? Viel Strecke haben wir eigentlich noch nicht zurückgelegt, aber mittlerweile gibt es immer mal Tage, an denen Alex nicht so viel laufen kann oder will. Was für einen Hund mit 12 Jahren natürlich vollkommen in Ordnung ist. Als wir oben angekommen sind, schaue ich ihn noch einmal genau an. „Können wir weiterwandern?“, frage ich mich. Ich nicke. Alex verdrückt sich auf den einstigen Kontrollstreifen der DDR und schlendert schnüffelnd durch die beigen Halmen, die sich wellenartig über die Wiese legen.

Deutlich seichter geht es jetzt bergab. Als wir an unserer Abzweigung ankommen, blüht mein Hund Alex wieder richtig auf. Erst denke ich: Es liegt an dem Misthaufen, auf den wir zusteuern. Schließlich würde Alex nur zu gerne darin eintauchen, um so ein in der Menschennase beißendes Parfum aufzutragen. Aber er bleibt auf dem mit Gras bedeckten Boden weiterhin fröhlich und agil.

Er prescht wieder vor. Seine Hundenase behält er dicht am Boden. Zwischendurch stoppt er abrupt und sucht wie ein wilder Grashalm für Grashalm und Erdbrocken für Erdbrocken ab. „Na, war hier eine läufige Hündin unterwegs oder ein Hase?“, frage ich ihn. Doch Alex ignoriert mich. Völlig hypnotisiert läuft er schon wieder vor zum nächsten Stopp. Auch wenn er gerade nicht die Verbindung zu mir hält, scheint er mir ansprechbar zu sein. Deshalb freue ich mich einfach nur darüber, ihn mit so viel Eifer und Freude die Wanderstrecke ablaufen zu sehen.

Glücklicherweise hält es an. Als wir uns auf den schmalen Pfad zurück zum Fuß der steilen Herausforderung begeben, klebt seine Hundenase zwar nicht mehr fest am Boden, aber Alex läuft trotzdem weiter voran. Seine Rute schwingt dabei leicht von links nach rechts, wobei ihr Ausschlag zur linken Seite immer etwas stärker ausfällt. Das liegt wohl an seinen Hüft- oder Rückenproblemen. Er wirkt aber zufrieden und motiviert. Das ist alles, was zählt. Und so kann ich dankbar und glücklich weiterwandern.

Kleine Wanderpause mit Hund: Wasser für die Seele

Nachdem wir noch ein kurzes Stück auf dem Kolonnenweg wandern, schlagen wir einen anderen Rückweg ein. Unsere Füße und Pfoten tragen uns erst über Gras und dann über Asphalt nach Hessen. Ein kurzer Stopp an meinem Lieblingsplatz. Der kleine Wasserspielplatz gehört zu dem sechs Kilometer langen „Familienpfad Point India“. Ein bekletterbarer Baum, eine Schaukel, der Bach, ein Wasserspiel und eine Bank laden zur Wanderpause ein.

Das Wasserrauschen lässt meine Mundwinkel noch ein Stück höherziehen und mein Herz scheint noch langsamer zu schlagen: Wasser hatte schon immer eine beruhigende, wohlige Wirkung auf mich. Alex will nichts trinken und eine Wanderpause braucht Hund scheinbar auch nicht. Also folgen wir noch ein Stück dem asphaltierten Weg, bevor wir rechts abbiegen – auf den „Premiumweg P21 Point India“. Er gehört zu den 26 qualitätsgeprüften Rundwegen, die durch den Geo-Naturpark Frau-Holle-Land in Hessen führen. (Mein Hund Alex und ich wanderten schon andere Premiumwege: Blogartikel gibt es über den „Premiumweg P18 Tannenburg“ und Premiumweg P5 Plesse“).

Natürlich müssen wir wieder bergauf. Alex rennt und ich schleppe mich schnaufend hinterher. Dass meine Schuhauswahl schlecht war, bestätigt sich wieder. Ohne Profil rutsche ich auf dem matschigen Pfad zwischendurch immer wieder weg. Dadurch bremse ich Alex aus, was ihm nicht gefällt – zumindest deute ich so seinen Blick.

Oben mit leicht bebenden Brustkorb angekommen, heißt es wieder verschnaufen und die Landschaft genießen. Sie erinnert an feste Wellen, die aus Feldern, Wiesen und bewaldeten Hügeln bestehen. Wie schön unsere Wahlheimat ist! Die Schleppleine nehme ich kürzer, da die Wiesen von Stacheldrahtzaun umgeben sind. Wir folgen den Schildern des „Premiumweges P21“ – vorbei an den Weiden und über Stufen hinab. Kurz darauf wird es noch einmal etwas heikel für mich und meine unpassenden Wanderschuhe. Ein unebener, matschiger Pfad schlängelt sich hinab.

„Hinter“ unser Kommando fürs Bergabwandern mit Hund

Lief Alex bis eben noch vor, bitte ich ihn, nun hinter mir zu bleiben. Das mache ich immer, wenn mein Hund und ich bergab wandern. Sicherheit geht vor: So kann ich seine Geschwindigkeit nämlich besser kontrollieren. Wenn er vorläuft, passiert es manchmal, dass er abrupt an der Schleppleine zieht, weil meine zwei Beine mit seinen Vieren nicht mithalten können. Das würde mich auf so einem Pfad schnell von den Füßen reißen und ihn vielleicht mit. Also muss Alex hinter mir bleiben und sich meiner Langsamkeit anpassen.

Auch dieses Miniabenteuer meistern wir und landen direkt am Eisernen Vorhang – nur dieses Mal auf der hessischen Seite. Noch einmal die Landesgrenze überqueren, schon endet unsere kleine Wanderung durch Thüringen und Hessen.

Unsere Wanderung findest Du auch bei komoot.

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