Ein Mikado aus Ästen und Baumstämmen. Es läuft noch Leben hindurch, aber nicht von dem einstigen Baum, sondern von seinen neuen Bewohnern. Insekten laufen über die morsche Rinde. Käfer verstecken sich vermutlich darunter und weiß-braune, halbrunde Pilze zeigen offenkundig ihren Wohnsitz. Wild geht es also im Thüringer Westen zu.
Der Blick zur Seite erinnert mich an mein Zimmer aus Jugendzeiten: unordentlich und chaotisch. Nur liegen hier keine Klamotten und Bücher wild herum, stattdessen nehmen grüne Vorhänge aus Blättern und Ästen teils die Sicht. Der braune Waldboden gibt sich nur zentimeterweise zu erkennen. Er ist bedeckt mit Moos, Totholz, Gebüschen, Blättern und anderen Pflanzen. Wege nicht in Sicht. So sieht es also aus, wenn die Natur machen darf, was sie will und es auch tut. Im Nationalpark Hainich in Thüringen darf die Natur eben Natur sein.
Seltene Tiere und Pflanzen leben im Hainich
Der Hainich ist ein Höhenzug im Westen Thüringens. Mit einer Fläche von 130 Quadratkilometer gilt der gesamte Hainich als das größte zusammenhängende Laubwaldgebiet in Deutschland. Sein Südteil wurde am 31. Dezember 1997 als Nationalpark ausgewiesen. Über 10.000 Pflanzen-, Tier- und Pilzarten tummeln sich hier. Darunter seltene Arten wie beispielsweise der Reitters Strunk-Saftkäfer. Der bleibt aber für die meisten Besucher unentdeckt, da er normalerweise unter den Baumrinden krabbelt und lebt. Ein anderer Urwald-Bewohner ist hingegen für jeden sichtbar. Fast zwei Meter dick und mehrere hundert Jahre alt: Die Eiche fühlt sich wohl und nicht nur die. Im Nationalpark Hainich dominiert allerdings ein anderer Baum, und zwar die Rotbuche. In Mitteleuropa sind Buchenwälder nichts Besonderes, aber weltweit betrachtet schon.
Beruflich war ich schon oft im Hainich, aber meist in der Nähe des Baumkronenpfads. Dort können die Besucher dem Hainich sozusagen aufs Dach steigen. Ein hölzerner Weg schlängelt sich über 540 Meter vom unteren Kronenbereich bis zu den Spitzen der Baumkronen in bis zu 24 Meter Höhe. Ein Touristenmagnet. Hunde dürfen aber nicht auf den Baumkronenpfad (ausgenommen Assistenzhunde). Hundeboxen stehen zwar zur Verfügung, aber für uns ist das nichts. Davon ab möchte ich eh lieber meine Ruhe haben und mich ganz der Natur hingeben. Deshalb wandern mein Hund Alex und ich einen der Wanderwege, die beim Wanderparkplatz „Crauler Kreuz“ in Hörselberg-Hainich beginnen.
Ruhe und Natur pur im Thüringer Westen
Bisher haben wir den fast leeren Parkplatz nur wenige Meter hinter uns gelassen, aber schon wirkt es wie eine andere Welt. Zumindest wenn die Augen nach rechts und links schauen, in die unordentliche Kinderstube des Nationalparks. Eine Kopfdrehung um 90 Grad und schon erblicke ich wieder die Menschenwelt. Schließlich wandern wir über einen angelegten Weg. Glücklicherweise haben wir den für uns allein. Nur ein paar Stimmen sind zu hören, die aber mit jedem Schritt leiser werden.
Mein Hund Alex lässt sich davon etwas ablenken. Vermutlich checkt er ab, ob Gefahr droht und welches der beste Fluchtweg wäre. Es gibt jedoch nur einen von Menschen angelegten: entweder vorwärts oder zurück. Er schreitet an den Laubbäumen vorbei und zuckt zurück. Sein Kopf dreht sich nach hinten, die Nase kräuselt sich zusammen. Es dauert nur Sekunden und schnell geht er zurück. Ein Halm muss scheinbar besonders gut riechen. Hat ein anderer Hund hier seinen Duft versprüht? Oder war es eins der vielen Wildtiere wie ein Reh, ein Wildschein oder gar ein Luchs. Vermutlich nur ein Hund, denn Alex hebt sein Bein. Jetzt ist es sein Revier.
Auch ich bleibe zwischendurch stehen, halte inne, atme tief ein und aus. Irgendwie ergibt für mich der Spruch „Den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen“ auf einmal tief im Inneren einen Sinn, obwohl ich es nicht näher erklären kann. Normalerweise finde ich Wanderwege über Schotter auf Dauer langweilig. Nicht hier. Das liegt nicht daran, dass es nur kleine braune Steinchen sind und der Weg schmaler als die anderen. Es liegt am Nationalpark Hainich. Alles sieht so gleich und doch so anders aus. Die Abwechslung des Wanderweges erkennt man nur im Detail. Also es empfiehlt sich aufmerksam zu sein und genau hinzuschauen.
Auf einer Stufe mit der Serengeti
Seit 2011 trägt der Nationalpark Hainich die Auszeichnung UNESCO-Weltnaturerbe. Somit steht der Nationalpark in Thüringen auf einer Stufe mit dem Yellowstone Nationalpark in den Vereinigten Staaten von Amerika, der Serengeti im afrikanischen Tansania und den ecuadorianischen Galapagos-Insel im Pazifischen Ozean.
Der Urwald entwickelt sich auf insgesamt 5.000 Hektar. Dieser Teil des Hainichs wird also nicht mehr genutzt. Auf dem Weg zum Urwald braucht er aber vor allem Zeit, wie mir der Nationalparkleiter bei einem meiner Drehs fürs Fernsehen erzählte. Die bekommt der Hainich. Jeden Tag verändert er sich und eines Tages wird es hier sicherlich ganz anders aussehen. Ob ich das erlebe? Wer weiß.
Mein Hund und ich wandern über einen breiteren Weg. Der Schotter bleibt, auch wenn er sich verändert hat. Gröber und heller. Es knirscht gewaltig, wenn meine Füße den Boden berühren und sich wieder erheben. Ein Fahrradfahrer durchbricht für einen Moment das Säuseln der Blätter, das Gezwitscher der Vögel. Dann herrscht wieder natürliche Stille – abgesehen von meinen Schritten.
Mit Hund durch Thüringens Natur wandern
Eine kleine Bank ohne Lehne lädt zu einer Wanderpause ein. Je nach Sitzrichtung blickt man auf den Schotterweg und den angrenzenden Hang oder in das waldliche Chaos, das bergab und wieder bergauf entsteht. Mein Hund Alex lässt das kalt. Er langweilt sich: Er senkt seine Hundenase nicht mehr und behält alle Pfoten auf dem Boden, also keine Lust zu markieren. Stattdessen fiept er – seine Aufforderung zum Weitergehen.
Einige hundert Meter wandern wir immer mehr bergab, um kurz darauf noch mehr in Thüringens einzigen Nationalpark einzutauchen. Unter unseren Pfoten und Füßen ist es wieder braun. Noch ein paar kleine Steine knirschen bei jedem Schritt, bis unsere Sohlen schließlich nur noch Waldboden berühren. Grüne Halme sprießen links und rechts aus dem Boden empor. Vor uns haben mehrere Bäume ihr Leben gelassen und blockieren mit ihren breiten Überresten den Wanderweg. Allerdings haben hier doch die Menschen eingegriffen und manch Baumstamm durchgesägt, aber nur so viel, dass der Weg weiterhin begehbar bleibt.
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Anderes Totholz quert so das Urwaldtal, dass ich mit meinen 1,65 Metern höchstens leicht gebückt drunter durchpasse. Dieser Abschnitt des Wanderweges gefällt mir besonders: Denn mehr Natur geht wohl kaum in einem öffentlich zugänglichen Park. Meinem Hund Alex gefällt es auch. Vor allem die aus der Erde gebrochenen, verzweigten Baumwurzeln haben es ihm angetan. Seine Nase wandert von Ast zu Ast, hält aber überall einmal inne, um jeden Geruchspartikel aufzunehmen.
Wanderpause mitten in Thüringens Urwald
Das Surren eines kleinen Flugzeugs, vielleicht einer Cessna, durchbricht zwischendurch die Ruhe. Ohne das und ohne Blick nach unten könnte man tatsächlich meinen, in einem Urwald fernab der Menschheit zu sein. Ungläubig, aber angetan und erfreut wandern wir weiter. Alex wird langsamer und hört auf seine Nase überall hineinzustecken. Das ist für mich ein Zeichen, dass er eine Pause braucht.
Kurz darauf entdecke ich wieder die Spuren der Menschen. Zusammengezimmerte Holzlatten formen eine überdachte Bank mit Tisch. „Alex, nun kannst Du verschnaufen und bekommst etwas zu trinken“, muntere ich ihn auf. Nachdem er versorgt ist, versuche ich die verschiedenen Stimmen der Vögel auseinanderzuhalten und zu zählen. Obwohl ich bisher immer daran gescheitert bin, kann ich es nicht lassen. Aber auch dieses Mal gelingt es mir einfach nicht. Zumal mich ein Knistern ablenkt.
Ich blicke hinter mich. Scanne den bewaldeten Hang und den bewachsenen Boden ab. Alex Hundeohren sind auch gespitzt. Seine Augen blicken starr nach vorn. Ich folge ihnen, aber ich entdecke nichts. Irgendwo ist hier ein Tier unterwegs. Wo und welches, entzieht sich mir. Vielleicht eine der seltenen Wildkatzen, die im Hainich leben? Hauptsache, kein Wildschwein oder Wolf. Wobei ich beide Tiere gerne einmal in freier Wildbahn sehen würde. Nur vielleicht nicht mit meinem Jäger Alex an der Seite und aus sicherer Entfernung.
Vom Sichtjäger und menschlichen Maulwurf
Wobei dann würde ich sie vielleicht nicht gut erkennen: Schließlich gehöre ich zu den Maulwürfen unter den Menschen. Und so habe ich schon einmal in einem weißen breiten Pfeiler einen Schwan gesehen – trotz Sehhilfe. Traurig, aber wahr. Aber auch Alex bernsteinfarbenen Sichtjäger-Augen können den Urheber der Gehgeräusche nicht finden. Zum Glück, sonst würde er je nach Tier ein kleines bis großes Bell- und Quietschkonzert geben: Denn er liebt die Hatz.
Genug ausgeruht. Wir wandern den geschwungenen Weg weiter. Meine Schritte werden langsamer, mein Atem tiefer und lauter. Es geht zwar bergauf, aber nur leicht. Vielmehr hat sich die Luftfeuchtigkeit verändert. Zwischen den teils dichtgedrängten Laubbäumen ist es sehr schwül. Das grüne Blätterdach schützt uns vor der Sonne, aber ich merke trotzdem, wie sich unter meinem T-Shirt manch Schweißperle formt. Bis zum Auto dürfte es aber nicht mehr weit sein. Also wandern wir weiter. Genießen noch mal den modrigen, aber dennoch frischen Duft der Natur und beim Hervortreten zwischen den Bäumen die Sicht über die Felder hin zu den nächsten Baumreihen des Nationalparks Hainich.
Hausmannskost in der „HainichBaude“
Jetzt noch eine kleine Stärkung in der „HainichBaude“ direkt am Wanderparkplatz „Crauler Kreuz“ in Hörselberg-Hainich. Kartoffelspalten mit Kräuterquark, eine Thüringer Brotzeit oder lieber Kaiserschmarrn? Oder doch ein Stück Kuchen? Eine Bockwurst mit Brot, das muss reichen. Alex ist nicht ganz so davon angetan, an beziehungsweise unter einem der Tische draußen Platz zu nehmen. Dabei war er schon Gast in Lokalen. Außerdem ist noch wenig los und wir sitzen weit von anderen entfernt. Trotzdem bedarf es Überredungskunst. Und ein vorbeikommender Mann blickt ihn zu interessiert an, sodass Alex mit zusammengepresstem Maul knurrt und wufft. Der Mann nimmt es gelassen und geht nach ein paar netten Worten einfach weiter. So kann ich mich wieder meiner Bockwurst widmen und meinen Gedanken. „Ach Du lieber Hainich, wie schön kann die Natur nur sein!“