Kalter, eisiger Wind fegt mir über die Ohren. Ich blicke nach oben in die Bäume. Die Äste bewegen sich, die recht dünnen Stämme schwanken leicht. Ist es schlau, bei diesem Wetter durch den Wald zu wandern? Sollten wir vielleicht umkehren und eine Wanderroute entlang von Feldern und Wiesen nehmen? Mein Blick richtet sich nach innen, mein Bauch fährt ein und aus, der Brustkorb hebt und senkt sich. Ich bin voll bei mir und frage mich erneut: Können mein Hund und ich zur Burgruine Boyneburg wandern? Ein wohliges Gefühl der Weite macht sich breit. Das heißt ja. Also gut Alex, mach Dich bereit: Wir wandern endlich wieder.
So oft wollte ich in diesem noch recht kurzen Jahr mit meinem Hund wandern. Wenigstens kleine Runden oder einfach kurz einen neuen Ort erkunden – am besten im Thüringer Wald. Doch leider hatte ich entweder keine Zeit, war mein Auto in der Werkstatt oder das Wetter war zu schlecht – und damit meine ich nicht etwas Regen. Schließlich bin ich Norddeutsche und so wie andere stets nach Sonne schreien, brauche ich die Tropfen – natürlich nicht immer, aber regelmäßig. Mein Hund Alex freut sich nur bedingt darüber, durch den Regen zu wandern, ich finde es toll. Aber das Wetter war wirklich zu schlecht. Also Ausflüge waren bis zu diesem Tag Fehlanzeige.
Umso mehr freue ich mich. Es wird nur eine kleine Wandertour mit Hund, aber das ist in Ordnung. Und das brauche ich gerade jetzt. Meine Gedanken und mein Kopf müssen endlich ruhen. Ständig kreisen sie herum und schüren meine Angst. Ich will jetzt aber nicht daran denken, dass Alex sterben könnte. Nein, ich will wandern. Also halte den Mund – liebe Schwarzmalerin!
Kleine Wanderung mit Hund in Hessen
Alex und ich starten am Wanderparkplatz Boyneburg (bei Grandenborn, einem Ortsteils der Gemeinde Ringgau im hessischen Werra-Meißner-Kreis). Die Route zur Burgruine Boyneburg scheint einfach zu sein und recht gut ausgeschildert. Die Wege sind breit, braune Blätter liegen überall herum. Der Herbst zeigt sich auch an manch Ast noch deutlich, dabei ist der Winter schon fast vorbei. Über meinem Kopf säuselt es und zwischendurch höre ich ein Klacken. Immer wenn der Wind Äste oder gar die dünnen Baumstämme zusammenschlagen lässt. Trotzdem fühle ich mich sicher.
„Nen` büschen Wind“, würde man in meiner Heimat sagen. Wobei das untertrieben ist. Denn diesen Satz hört man sogar, wenn der Wind ganz schön pustet. Jetzt wäre er für einige wahrscheinlich nicht einmal der Rede wert. Trotzdem blicke ich immer mal wieder nach oben. Das Betreten von Wäldern ist in Deutschland grundsätzlich auf eigene Gefahr. Und durch die „Stürme“ der letzten Zeit können hier einige Äste auf halbmast hängen. Also Augen offenhalten.
Durchs Naturschutzgebiet Boyneburg und Schickeberg bei Breitau
Mein Hund Alex freut sich. Er läuft voraus und bleibt immer mal wieder stehen, um an den Blättern, die auf dem Boden liegen, oder an einem Busch zu schnuppern. „Naturschutzgebiet“ warnt uns das grün-weiße Dreieck: Kein Problem. Alex liebt die Hatz und bleibt deswegen im Wald eh an der Leine. Mein Herz klopft etwas schneller. Die Luft riecht leicht modrig nach Wald, aber versprüht gleichzeitig eine frische, angenehme Brise. Das ist das, was ich liebe: Mit meinem Hund Alex durch die Natur zu ziehen und sie möglichst mit allen Sinnen wahrzunehmen.
Schon klopft die Schwarzmalerin an die Gehirnschranke. „Was ist, wenn der Knubbel an Alex Bein bösartig ist? Was ist, wenn Du ihn zu spät bemerkt hast? Wie konntest Du den eigentlich erst am Samstag feststellen?! Du musst doch Alex regelmäßig absuchen! Wenn es zu spät ist, bist Du schuld!“
„Aber es war doch so viel los“, entgegnet die Rechtfertigung. Mein Auto als Dauergast in der Werkstatt. Eine superhartnäckige Erkältung, die mich fast drei Wochen lang beschäftigte. Dann wieder zu viel Arbeit und und und. SCHLUß! Rufe ich in Gedanken. Nachher fahren wir zu unserer Tierärztin und dann schauen wir weiter. Jetzt heißt es Erholung.
Bergfried in Sicht
Der Wanderweg verwandelt sich zu einem Pfad. Solche Wege bevorzuge ich. Er ist uneben und führt über einen Bergkamm. Kurz meldet sich meine Angst, als ich hinabblicke. Der Kalksteinberg Boyneburg hat nämlich teils steil abfallende Hänge. Doch ich kann mich schnell beruhigen. Der Wanderweg erfordert sicherlich Trittsicherheit, aber gefährlich sieht für mich persönlich anders aus. Allerdings muss ich jetzt genauer hinschauen. Wir wandern bergauf und müssen Gestein überwinden. Alex springt wie eine Gazelle voran. Klar, mit vier Beinen hat er es natürlich leichter. Aber auch ich komme gut den Berg hinauf.
Zwei Wege führen zur Ruine. Am Hang möchte ich gerade nicht entlang, deshalb gehen wir geradeaus, vorbei an dem grün weißen Pflanzenteppich. Mal wieder habe ich keine Ahnung, was da auf dem Boden wächst. Vielleicht Märzenbecher!? Die App „flora icognita“ befragen, will ich aber gerade nicht. Die Bäume weichen und wir kommen auf eine kleine Lichtung. Nur noch wenige Schritte und ich sehe den Turm oder besser gesagt den Bergfried der Ruine. Ursprünglich war er fünfeckig, mittlerweile sind nur noch zwei Seiten mehr oder weniger vorhanden, wie ich aber erst im Nachhinein erfahre. Geschichte hat mich eigentlich nie so richtig interessiert und dennoch liebe ich es durch alte Gemäuer zu streifen. Dort herrscht immer eine ganz bestimmte Atmosphäre, die ich nicht in Worte fassen kann.
Die Burg Boyneburg
Die Burg Boyneburg wurde vermutlich im 11. Jahrhundert errichtet. Die Reste befinden sich am Nordteil des gleichnamigen Berges, dessen höchster Punkt etwa 513 Meter beträgt. Der Kaiser Barbarossa soll einige Male ein und ausgegangen sein. Außerdem soll er einen Reichstag abgehalten haben und von hier zu seinem letzten Kreuzzug aufgebrochen sein, bei dem er starb. Im Dreißigjährigen Krieg wurde die Burg geplündert. 1637 wurde sie in Brand gesetzt. Trotz der Zerstörungen blieb sie bis 1672 besetzt, erst da verließ der Voigt sie. Anschließend diente Boyneburg für die Bewohner der Gegend als Steinbruch. Die Burgruine steht unter Denkmalschutz und es sollen hier schon einige archäologische Ausgrabungen stattgefunden haben.
Die Infotafel erwähnt die Geschichte des Fräuleins Boyneburg. Es gibt verschiedene Fassungen, eine der frühesten Sagen stammt von den Brüdern Grimm und erschien in dem Werk „Die deutschen Sagen“. Demnach lebten hier vor vielen Jahren drei Schwestern. Die Jüngste wurde bei einem Gewitter geboren und träumte später, sie würde auch bei einem sterben. Als sie 18 Jahre alt war, zog ein Gewitter auf und wollte nicht mehr weichen. Nach drei Tagen beschloss das Fräulein, sich zu opfern. Ihre Schwestern flehten den Himmel um Gnade an, aber das nutzte nichts. Also ging die Jüngste hinaus und verschwand, nachdem sie ein Blitzschlag traf. Das Gewitter war danach vorbei.
An Himmelfahrt fliegen die Brote
Laut ihrem Testament sollen die Bürger an ihrem Todestag beschenkt werden. Deshalb wird noch heute ihr zu Ehren das Brotspendefest veranstaltet: zuerst am Gründonnerstag und seit 1902 an Himmelfahrt. Nach dem Gottesdienst um 13 Uhr erhalten Betagte und Kinder „Brot und Speck“ und anschließend gibt es bei der Ruine den „Brotschmiss“. Dabei sollen 300 Brotlaibe in die Menge geschmissen werden.
Zum Glück fliegen heute keine Brote. Das hätte meinen Angsthund sicherlich sehr verstört und mich vermutlich auch: Bis eben wusste ich von dem Spektakel ja noch nichts. Somit können wir seelenruhig und allein durch das Torhaus gehen und den Vorplatz erkunden. Einen Moment verharren. Das alte Gemäuer genauestens betrachten und auf sich wirken lassen. Wie es früher hier wohl war? Da musste sich vermutlich noch keiner mit Tumoren herumschlagen… Schluß!
Alex springt auf Mauerreste und blickt sich wachend um. In ihm muss einfach ein Schäferhund stecken, das zeigt er immer wieder. Da ich keinen geeigneten Weg finde, der uns hinab führt, verlassen wir die Burgruine so, wie wir sie betreten haben. Nur schlagen wir danach einen anderen Weg ein und wandern am Berghang entlang. Auch dieser wird von dünnen, teils bemoosten Bäumen gesäumt – vielleicht Hainbuchen? Die gibt es hier auf jeden Fall. Sie stehen teils in ein, zwei Meter Abstand zueinander und sind noch kahl. Dadurch geben sie den Blick frei nach unten ins Tal. Mein Herz schlägt wieder etwas schneller, nicht aus Angst, sondern aus Freude. Das könnte ich ständig machen. Ich hoffe und bete inständig darum, dass Alex und ich noch viele Wanderungen machen können!
Wandern mit Hund macht glücklich
Nachdem wir das Gestein hinunter sind, biegen wir links auf den Pfad ein. Wir gehen also auf der anderen Bergseite zurück. Dieser Weg ist schmal, aber auch mit Laub bedeckt. Zwischendurch kann ich auch recht steil hinunterblicken. Meine Angst bleibt hellwach, aber sie nimmt nicht überhand, sondern erinnert mich daran, vorsichtig zu sein und macht mir die Tiefe bewusst. So ist es vollkommen in Ordnung und ich bin dankbar, diesen Schutzmechanismus zu haben.
Schließlich kommen wir wieder auf einen breiten Waldweg und treten an seinen Rand. Den Rest der Wanderstrecke gehen wir am Waldrand entlang und müssen über einige Äste steigen, die der Forst hier liegengelassen hat, wie mir ein Mann leicht verärgert erzählt. Nach einem kleinen, netten Plausch ziehen Alex und ich weiter zum Auto. Mein Inneres ist ruhig, entspannt und glücklich. Damit fühle ich mich gut gewappnet für den Tierarztbesuch.