Für einen Augenblick verschwimmt meine Sicht. Denn meine Augen füllen sich mit Tränen. Vereinzelt kullern welche über meine Wangen. Gleichzeitig heben sich meine Mundwinkel und ein warmes, wohliges Gefühl weitet meinen Brustkorb. Ich bin glücklich. Vor wenigen Stunden war noch das Gegenteil der Fall. Da kamen mir die Tränen vor lauter Frust. Ich konnte mir nur schwer einen Heulanfall verkneifen.
Mit Mühe und Not sowie finanzieller Unterstützung von Seiten meines Bruders und Onkels hatte ich ein paar Tage zuvor mein Auto aus der Werkstatt abgeholt. Ich war zum dritten Mal liegengeblieben. Hoffnungsvoll fuhr ich an dem Tag zum Einkaufen runter ins Dorf. Auf dem Rückweg schrillte dann wieder ein Alarm durch mein Auto. Wieder leuchtete ein rotes „STOP“ in meinem Bordcomputer auf. Nur wenige Sekunden danach fiel erneut der Motor aus. Panne Nummer vier. Ich wollte mein Auto schon verschrotten, aber der ADAC-Mitarbeiter überredete mich, mein Auto in meine Vertrauenswerkstatt zu bringen. Denn er vermutete einen Garantiefall. Gesagt, getan. Wir hatten Glück. Eigentlich war schon Feierabend, aber der Inhaber war noch da, sodass ich einen Ersatzwagen bekam.

Normalerweise nehme ich meinen Hund nicht in einem Leihwagen mit. Nur als wir die Panne an der Ostsee hatten und nach Hessen zurückmussten. Das war abgesprochen mit dem Autohaus. An diesem Tag kann ich aber nicht anders. Seit Monaten haben wir keine Ausflüge mehr gemacht, weil ich entweder für mehrere Wochen kein Auto hatte oder nicht genügend Geld fürs Tanken. Da ich für meine Einsätze als Fernsehreporterin pro Tag rund 180 Kilometer fahre, musste ich mit jedem Liter Diesel haushalten. Ich muss aber regelmäßig eine neue Ecke erkunden, sonst werde ich frustriert. Es reicht schon, wenige Kilometer von unserem Zuhause entfernt zu sein – ein absolutes Minimum.
Aus der Traum vom Übernachten im Minicamper
Eigentlich wollte ich mein Auto wieder in einen Minicamper verwandeln und eine Nacht auf dem Wohnmobilstellplatz bei Germerode im hessischen Werra-Meißner-Kreis verbringen. Denn Urlaub oder kurze Campingtrips waren ebenfalls lange Zeit nicht möglich. Dieses Camping-Vorhaben fiel nun mit meinem Auto aus. Wenigstens die geplante Wanderung durch die Mohnblüte will ich mir nicht nehmen lassen. Also nehme ich alle möglichen Decken und Bettlaken, um die Rückbank des Ersatzwagens komplett abzudecken. Alex hopst ins Auto. Anschnallen. Ich hinters Steuer und los. Und nun wandern wir von dem Parkplatz Richtung Mohnblüte.
Die Mohnblüte im Geo-Naturpark Frau-Holle-Land (Hessen)
Jeden Sommer verwandelt sich die Landschaft bei Germerode und Grandenborn in ein Blütenmeer. Denn dann blühen Millionen von Mohnblüten. Während der Saison führen Wanderwege durch die hessischen Felder: Die Mohnwanderwege in Germerode und in Gradenborn sind meist drei bis vier Kilometer lang. Während in Grandenborn fünf Hektar Mohn blühen, sind es in Germerode mittlerweile knapp 25 Hektar. Wann die Saison beginnt und endet, lässt sich nicht ganz genau sagen. Meist blüht der Mohn von Ende Juni bis Anfang Juli. Der Geo-Naturpark Frau-Holle-Land informiert auf seiner Webseite über den Blütenstand. In Germerode können die Besucher auch mit der Mohnschnecke Planwagenfahrten machen oder an einer Führung teilnehmen.
Die Sonnenstrahlen wärmen mein Gesicht. Ihr Stand zeigt aber, dass wir nicht mehr viel Zeit haben, bevor es dunkel wird. Egal, die Stirnlampe steckt im Wanderrucksack. Mein Hund Alex strahlt auch. Sein Maul ist leicht geöffnet, seine Zunge hängt locker hinaus. Seine Rute schwingt etwas aufgeregt von links nach rechts. Mit schnellen Pfoten rennt er zu dem Grünstreifen am Wegesrand. Studiert intensiv die Grashalme und Gebüsche. Hinterlässt seine Duftmarke und zieht fröhlich weiter.
Die ersten Mohnblüten zeigen sich
Wir kommen ans erste Feld. Keine Ahnung, was das für beige Stängel sind. Vereinzelt bringen rote Tupfer Farbe ins Feld: die letzten Mohnblüten. Die Saison ist schließlich vorbei. In diesem Jahr blühen sie sogar bereits über eine Woche länger als sonst. Fast so, als hätten sie noch auf uns gewartet. Wie der Wanderweg verläuft, weiß ich nicht. Es spielt auch keine Rolle. Mein Hund und ich wählen den Weg einfach nach Gefühl. Deshalb wandern wir erst einmal an dem Feld entlang. Über einen breiten, mit Gras bedeckten Pfad gehen wir zwischen zwei Feldern hindurch. Alex scheint begeistert von all den neuen Gerüchen. An dieser Stelle zeigen sich noch mehr Mohnblumen. Aber von einem Mohnblütenfeld kann nicht die Rede sein. Die Stängel müssen irgendetwas anderes sein. Was erfahre ich nicht mehr.
Meine Freude schmälert das nicht. Ich fühle mich so frei wie lange nicht. Ich mag mein Dorf, aber wenn man monatelang immer nur das Gleiche sieht und nicht einmal ohne Hilfe einkaufen kann, gleicht das irgendwann einem Gefängnis – natürlich nicht einmal im Ansatz vergleichbar mit einem richtigen Gefängnis. Für mich ist jedoch mit das Schlimmste eingeschränkt zu sein oder zu werden. Freiheit gilt für mich mit als höchstes Gut.





Das Trillern und Zwitschern verschiedener Vögel begleitet uns. Alex Hundenase zieht ihn zu neuen Gewächsen. Über zwei Meter hoch ragen nun grüne Pflanzen in den Himmel. Zwischen ihnen schlängelt sich ein schmaler Pfad. Genau nach meinem Geschmack. Trotzdem zögere ich kurz, denn laut meinem Orientierungssinn würde er uns wieder auf unseren Startweg bringen. Egal, der Pfad ist zu verlockend und Alex ist bereits auf ihm verschwunden. Ob der Duft bereits seine Sinne vernebelt hat? Nein, das dürfte eigentlich nicht möglich sein.
Cypress Hill wandert mit mir und meinem Hund
Zwar handelt es sich bei den grünen Pflanzen um ein Hanffeld, aber es ist Nutzhanf. Das bedeutet, dass er nur sehr wenig Tetrahydrocannabinol (THC) enthält. Dadurch hat Nutzhanf keine psychogene Wirkung. (Laut der Pressemitteilung Nr. 98/2024 „Bundesregierung beschließt Liberalisierung von Nutzhanf“ des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft darf Nutzhanf nicht mehr als 0,3 Prozent THC enthalten.)

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Da meine Sicht nur wenige Schritte vor meine Füße reicht, nehme ich die Schleppleine weiter auf. Schließlich möchte ich nicht, dass ein anderer Wanderer, der aus der anderen Richtung kommt, zuerst nur von meinem Hund überrascht wird. Das Vogelgezwitscher nimmt ab und wird durch Musik verdrängt. In meinem Kopf ertönt nun: „Hits from the Bong“ von Cypress Hill. Wie lange habe ich daran nicht mehr gedacht? In meiner Jugend hatte ich das regelmäßig wahrlich im Ohr. Sei es zu Hause oder auf dem Weg zum Pferd per Walkman – Smartphones und MP3-Player gab es in den 90ern schließlich noch nicht.
Für das Sofa legt mein Hund eine Wanderpause eine
Alex steckt immer wieder seine Hundenase zwischen die Stängel des Hanfes und schnuppert ausgiebig die grünen, länglichen Blätter ab. Mein Hund steht scheinbar auf Hanf. Noch mehr begeistert ihn aber das Sofa, das nach einer Kurve auftaucht. Wir können an keiner Sitzgelegenheit vorbeiwandern, bevor Herr Hund nicht ausgiebig daran geschnuppert hat. Er reckt seine Schnauze nach oben und drückt seine schwarze, dicke Hundenase fast auf den Rand. Nur wenige Millimeter bleiben zwischen ihr und der Sitzgelegenheit. Dann untersucht er den Rand des Sofas: Zentimeter für Zentimeter. Ich wüsste zu gerne, was er so alles erfährt. Erst nach seiner ausgiebigen Inspektion können wir weiterwandern.




Wir verlassen das Hanffeld und wandern über Asphalt zu einer Blumenwiese. Blaue, weiße, rote und gelbe Blüten wechseln sich ab. Auf einer großen Liege aus Holz nehme ich Platz. Wieder füllen sich meine Augen vor Freude mit Tränen. Wie sehr habe ich die Ausflüge mit Alex vermisst. Es gesellen sich aber auch Tränen der Erschöpfung und des Frustes hinzu. Das letzte Jahr (2023) war schon nicht einfach: Auch da leerte mein Auto mehrfach mein Bankkonto. Dann Alex Tumor-OP, die aufgeplatzte OP-Naht (mehr dazu: „Endlich wieder wandern mit Hund“ und „Erste Hilfe am Hund: Blutung stillen mit Druckverband“) und zwei unschöne, plötzliche Todesfälle in der Familie. 2024 hat dann aber noch einen obendrauf gesetzt.
Ein kaputtes Auto scheint erst einmal nicht allzu dramatisch. Wenn man sowohl privat als auch beruflich darauf angewiesen ist, sieht das anders aus. Und erst recht bei Freiberuflern, so wie mir. Existenzprobleme sind kein Pappenstiel. Im Gegenteil, sie stellen eine riesige Belastung dar. Deshalb kann ich den Heulkrampf dieses Mal nicht vermeiden und will es auch nicht. Schließlich wollen Gefühle gefühlt werden. Also sitze ich da und weine. In einiger Entfernung höre ich Menschen, aber das ist mir egal. Es dauert nur Minuten und alles scheint raus zu sein. Also einmal tief durchatmen und weiterwandern.
Schlafmohn im hessischen Werra-Meißner-Kreis
Meine Mundwinkel heben sich wieder. Dankbarkeit sowie Freude erfüllen mein Herz. Alex scheint es zu freuen, dass wir weiter wandern. Er springt sofort von allein auf und trabt voran. Über Asphalt wandern wir ein Stück bergauf und kommen an das erste kleine, komplette Feld mit Mohnblumen. Alle Stängel leuchten noch grün, aber viele lassen bereits die Köpfe hängen. Manch Blüte trocknet bereits vor sich hin. Aber dazwischen strahlen andere noch in voller Pracht in rosa, weiß, pink und rot.
Schlafmohn gehört zu den ältesten Kulturpflanzen in Europa. In Deutschland wurde Mohn noch vor dem Zweiten Weltkrieg angebaut und in der ehemaligen DDR fast bis zur Wiedervereinigung. Dann wurde der Anbau allerdings verboten: Schlafmohn enthält Morphin und diente zur Herstellung von Opium. Mittlerweile gibt es allerdings drei morphinarme Mohnsorten ( < 0,02 Prozent Morphin), die angebaut werden dürfen. (Quelle: Geo-Naturpark Frau-Holle-Land)
Über einen breiten Weg aus Erde und Gras wandern wir weiter. Ich entdecke immer wieder Wanderschilder, die teils verschiedene Wegverläufe anzeigen. Ein Blick auf die Uhr und meine Wander-App. Dann entscheide ich mich für den Weg zu unserer Linken. Das nächste noch blühende Blumenfeld erwartet uns. Ein schmaler Pfad schlängelt sich hindurch. Welche Blumen links und rechts von uns wachsen, weiß ich nicht: Mir fehlt der grüne Daumen.


Der Wind lässt die Pflanzen tanzen. Mein Hund Alex trabt mit leicht schwingender Rute voran. Ganz behutsam steckt er immer wieder die Nase an und zwischen die Blumen. Unsere kurzen Stopps für Fotos findet er zwar lästig, aber trotzdem strahlt er zwischendurch in die Linse. Vom Blumenfeld geht es auf den Pfad durchs Getreidefeld. Unglaublich, was die Mitarbeiter des Geo-Naturparks Frau-Holle-Land hier leisten. Mein Hund und ich sind schon viele schöne Wege gewandert, aber die Wanderung durch die Mohnblüte ist etwas ganz Besonderes.
Es steht ein Einhorn auf dem Mohnwanderweg
Mein Hund und ich kommen von einem Feld ins andere. Zwischendurch genieße ich die Aussicht über die hügelige Landschaft des Werra-Meißner-Kreises. Auf einmal zuckt Alex vor mir zusammen und bellt. Ich brauche einen Moment, bis ich verstehe, was ihn erschreckt. Eine Frau steht mit einem Einhorn zwischen dem Getreide. Nein, ich habe keinen Hanf konsumiert. Das Einhorn steht dort wirklich. Allerdings besteht es wie die Frau aus Pappe oder dergleichen.



Alex traut sich nicht heran. Also quetsche ich mich an ihm vorbei und gehe zu den beiden Ungeheuern. Damit möchte ich Alex einfach nur zeigen, dass keine Gefahr davon ausgeht. Er hört auf zu bellen, setzt die Pfoten zwei Schritte nach vorne und streckt seinen Hundekörper so weit wie möglich nach vorne. Sein Nasenrücken kräuselt sich. Seine Angst schwindet zwar, aber geheuer ist es ihm nicht. Deshalb bleibt er auf Abstand. Natürlich zwinge ich ihn nicht. Genauso wenig bringe ich ihn in einen Konflikt, indem ich ihn mit Leckerlis heranlocke. Mittlerweile weiß ich, dass so ein Verhalten nicht unbedingt hilfreich ist, wenn es um das Vertrauen und die Bindung geht. Denn dadurch durchlebt der Hund einen Zwiespalt: Einerseits hat er Angst und möchte vielleicht sogar flüchten, andererseits möchte er, wenn die Angst nicht zu groß ist, aber auch gerne das Leckerli haben und dem Herrchen „gehorchen“. Ein blöder Zwiespalt.
Leider wandern mein Hund und ich nicht im Wunderland
Deshalb lassen wir das Einhorn und die Frau rechts liegen und wandern weiter. Vor uns taucht ein Feld mit mehreren großen Steinen auf. Irgendwie erinnert mich das an den berühmten Steinkreis Stonehenge in England. Dabei sind die Steine hier bei Germerode viel kleiner davon und sind auch anders aufgestellt.
Mein Hund und ich haben die Qual der Wahl, auf welchem Weg wir weiterwandern. Von der Lust her könnte ich noch Stunden weiterwandern, aber die Sonne strahlt nur noch mit letzter Kraft. Also entscheide ich mich für die Holztür. Während mein Hund drumherum läuft, gehe ich hindurch. Das Kind in mir hofft, dadurch in eine Märchenwelt zu gelangen, ähnlich wie Alice im Wunderland. Doch weder die Grinsekatze noch der verrückte Hutmacher zeigen sich. Dafür ragen grüne Eier in die Luft. Es sind natürlich Blüten und keine echten Eier, aber wieder weiß ich nicht, was das für Pflanzen sind. Dazwischen verleihen vereinzelte Mohnblüten dem grünen Feld etwas Farbe.









Ein Bett im Mohnfeld
Am Ende steht ein großes braunes Bett aus Holz. Was für ein wunderschöner Schlafplatz, den Alex ähnlich wie Bänke genauestens mit seiner Hundenase untersucht. Gerne würde ich mich dort hineinlegen, aber die Dunkelheit naht und in meinem Kopf tauchen Flöhe, Läuse und andere unangenehme Viecher auf. „Wer weiß, wer schon alles auf der Matratze lag?!“, ermahnt mich eine Stimme. Also ziehen wir weiter.
Die letzten Meter führen uns über breite Wege. Die Pfade durch die Felder sind vorbei, aber die Freude darüber wandert weiter mit. Noch einen Blick auf das Mohncafé die Mohntenne. Zur Saison der Mohnblüte gibt es hier zu bestimmten Zeiten Kaffee und Kuchen. Im Kino erfahren die Besucher alles über den Kreislauf des Mohns: von Saat, Blüte, Ernte und Verarbeitung. Außerdem finden dort verschiedene Veranstaltungen statt. Die Mohnblüte hat also noch mehr zu bieten, als die Wanderung durch die verschiedenen Felder. Doch mir reicht das und ich denke, meinem Hund auch. Denn so hatten wir das Ende der Mohnblüte für uns ganz allein.
