Die Kraft der Ostsee

Mein Herz hüpft. Der starke Salzgeruch, wie ich ihn aus meiner Kindheit in Erinnerung habe, dringt zwar nicht in meine Nase, aber trotzdem rieche ich das Meer. Leicht, frisch, mit einer Prise Salz und Seetang. Während das Hüpfen meines Herzens für die Freude steht, die ich beim Anblick von Meer empfinde, bedeutet das schnellere Schlagen, dass ich aufgeregt bin. Mit flinken Händen packe ich meinen Wanderrucksack, tüdele die Schleppleine auseinander. Mein Hund Alex hält seine Rute gesenkt und schaut sich mit offenen Augen um. Seine Nasenflügel wackeln und sein Nasenrücken kräuselt sich. So schätzt er die Umgebung und Situation ein. Dann folgt er mir.

Schnellen Schrittes gehen mein Hund und ich über den Parkplatz. Ein Teil von mir würde am liebsten rennen, um schnell der Ostsee so nah wie möglich zu kommen. Ich halte mich zurück und versuche nicht in Hektik zu verfallen. Alex schnüffelt den Rand der Wiese ab und spannt seine Muskeln an. Er muss erst abschätzen, ob die fremden Menschen eine Gefahr darstellen und ob er gegebenenfalls fliehen muss. Mein Hund braucht die Zeit, aber ich bin ungeduldig. Unser letzter Meerbesuch liegt fast ein Jahr zurück. Das ist zu lang, viel zu lang. Mein Meerweh zeigt sich in Frust, der mit anhaltender Abstinenz immer größer wird.

Findlinge trennen uns von der Ostsee

Alex entscheidet sich gegen die Flucht. Die Fremden scheinen in Ordnung, anders als das Fahrrad, das mitten auf der Promenade in Travemünde steht. Er spannt seinen Hundekörper ein Stück stärker an, die Rute senkt er wieder. Der direkte Weg ans Wasser führt aber nun einmal daran vorbei. Ich nehme Alex auf die andere Seite, sodass ich zwischen ihm und dem drahtigen Ungeheuer bin. Das hilft ihm ein bisschen, trotzdem tragen ihn seine Pfoten zügiger als vorher voran und die Stufen hinab.

Noch immer haben wir Asphalt unter den Füßen und Pfoten. Aber nun trennt uns nur noch ein Damm aus grauen Findlingen vom Meer. Noch ein paar Schritte weiter von dem Fahrrad und Menschen entfernen, dann bleiben wir stehen. Mein Blick schweift über das Wasser, das fast erstarrt ist. Es bewegt sich nur in winzig kleinen Wellen und prallt mit einem leisen „Platsch“ an die Steine. Wie im Sommer wirkt die Ostsee auch am heutigen Novembertag so friedlich. Selbst die Möwen befinden sich im Ruhemodus: Statt kreischend durch die Luft zu fliegen, lassen sie sich auf dem Meer treiben. Sie können aber auch anders – genauso wie die Ostsee. Sie zeigt sich manches Mal von ihrer wilden Seite, und zwar, wenn die Herbststürme mit ihr einen Wellentanz vollführen.

Das einstige Fischerdorf und heutige Seebad Travemünde wurde schon oft von Sturmfluten heimgesucht. Das übertretende Wasser zeigte dabei nicht selten seine Zerstörungskraft. Travemünde wurde aber jedes Mal wieder aufgebaut. Schließlich hat es als Tor zur Ostsee eine wichtige Bedeutung für die Hansestadt Lübeck und ihre Handelsschiffe.

Alles wirkt belanglos

Meine Mundwinkel gehen hoch. Mein Herz weitet sich und selbst der letzte angespannte Muskel löst sich. Gleichzeitig überkommt mich eine gewisse Melancholie: Meer vermittelt mir immer ein Gefühl davon, wie klein, begrenzt und unbedeutend ich eigentlich im Vergleich zur gesamten Erde bin. Nie werde ich alles entdecken und begreifen können. Gleichzeitig kann ich alles loslassen, weil durch die Weite des Meeres jede Sorge, jeder Kummer, jede Wut und jeder Frust so belanglos erscheinen.

Ein hoher Ton holt mich aus meiner Trance. Alex fiept. Die Ostsee löst bei ihm nicht den Wunsch aus, stundenlang aufs Wasser zu starren. Mit Sand unter den Füßen und Pfoten ist es aber eh noch schöner. Also gehen wir weiter – weg von der Promenade. Auch wenn Hunde vom 1. Oktober bis zum 31. März an den Kurstränden von Travemünde erlaubt sind, gehen wir in die andere Richtung – zum Hundestrand am Brodtener Steilufer.

Urlaub mit Hund an der Ostsee

Mein Herz schlägt wieder etwas schneller, meine Muskeln spannen sich an. Ich bin kein Freund von Hundestränden. Manche Menschen legen mit der Hundeleine die Verantwortung ab. Sie denken, nur weil es Hundestrand heißt, dürfen ihre Vierbeiner dort machen, was sie wollen, und alle Hunde müssen sich freudig in die Arme springen. Dabei bedeutet Hundestrand erst einmal nur, dass Hunde an dem Strand erlaubt sind. Manche Gemeinden gestatten den Freilauf andere nicht.

An den beiden Hundeständen in Travemünde darf sich Hund zwar frei bewegen, aber niemand muss seinen Hund ableinen. Vielmehr sollten nur die frei sein, die abrufbar sind und niemanden – weder Mensch noch Natur und Tier – schaden. Leider verstehen das nicht alle Hundehalter. Natürlich gibt es auch andere, rücksichtsvolle, verantwortungsbewusste Hundehalter, die so wie ich einfach nur wollen, dass jeder Hund seinen Spaß hat, ohne andere zu stören oder gar zu schaden. Noch weiß ich aber nicht, welch Gattung von Menschen sowie Hunden dort heute unterwegs sind.

Normalerweise meide ich Hundewiesen und -strände. Zu oft haben wir blöde Erfahrungen gemacht, die teils noch tief sitzen. Deshalb war ich auch noch nie mit Alex an dem anderen Hundestrand von Travemünde, der sich auf der Halbinsel Priwall befindet. An dem Hundestrand am Brodtener Steilufer waren wir schon öfter, aber nicht, weil ich es will, sondern weil wir nur so an mein Ziel kommen. Ich will nämlich mit Alex unten an der etwa 4,5 Kilometer langen Steilküste entlang wandern. Dafür müssen wir aber erst über den Hundestrand. Früher war dort im Herbst wenig los. Vielleicht weil die grauen Findlinge den direkten Weg ins Wasser blockieren. Mensch und Hund müssen fürs Schwimmen in der Ostsee erst über den Badesteg.

In Travemünde ist was los

Auf dem Hauptstrand und in Travemünde sah es hingegen schon immer anders aus. Der Lübecker-Stadtteil ist das ganze Jahr über ein beliebter Ausflugs- und Urlaubsort. Besonders voll wird es natürlich im Sommer zur Travemünder Woche, wenn die Segelfans aus der ganzen Welt anreisen. Die internationale Regattawoche wurde gegründet, als 1889 die Hamburger Kaufleute Hermann Dröge und Hermann Wentzel in der Lübecker Bucht um die Wette segelten.

Kurtaxe

Übernachtungsgäste müssen in Travemünde eine Kurabgabe zahlen. Die Ostseecard ist über die Gastgeber und über den Kurbetrieb Travemünde erhältlich. Tagesauflügler müssen vom 15.5. bis 14.9. eine Nutzungsgebühr für die Strände und Liegewiesen bezahlen. Dafür stehen Automaten bereit oder es wird Strandkorbbesitzern bezahlt. Mehr Infos gibt es hier beim Seebad Travemünde.

Ein weiteres Highlight stellt die alljährliche Sandskulpturenausstellung dar, bei der vom Sommer bis in den Herbst hinein bis zu 15 Meter hohe Kunstwerke aus Sand zu sehen sind. Zu Silvester lockt Viele das Strandfeuerwerk. Manche starten im Fischereihafen ihren Weg auf der Fischbrötchenstraße, die an der Küste über Timmendorfer Strand und Scharbeutz bis nach Rettin entlangführt.

Frischer Fisch direkt vom Kutter

Im Frühjahr genießen einige frischen Hering und/oder Maischolle direkt vom Kutter. Im Sommer wollen viele in einem der 1060 Strandkörbe entspannen und die frische Ostseeluft genießen, fünf davon eignen sich sogar zum Schlafen. Das ganze Jahr schlendern einige mit oder ohne Hund die Promenade hoch zur Nordermole, wo die grün-weiße Leuchtbarke sie empfängt.

Nordermole mit Molenfeuer

Der älteste Leuchtturm Deutschlands steht weiter vorne in Richtung Altstadt. Wann genau er erbaut wurde, steht nicht fest, aber 1330 wurde er erstmals urkundlich erwähnt. Über das Leuchtfeuer wurde bereits zuvor in Dokumenten gesprochen. 1534 zerstörten dänische Truppen den Leuchtturm, aber er wurde wieder aufgebaut. Sein Leuchtfeuer erlosch 1972, als das Hotel Martitim gebaut wurde und es verdeckte. Zwei Jahre später wurde ein neues Leuchtfeuer in Betrieb genommen: In 115 Metern Höhe strahlt es jetzt auf dem Hotel Maritim und gilt damit als höchstes Leuchtfeuer in Europa.

Schiffegucken in Travemünde

Viele kommen zum Schiffegucken nach Travemünde. Das ganze Jahr über ziehen kleine und große Pötte durch die Mündung der Trave in die Lübecker Bucht. Darunter sind nicht nur Fischer- und Segelboote, sondern auch Ausflugs- und Fährboote. Kein Wunder, der Skandinavienkai gehört zu den größten Fährhafen Europas. Manch Großsegler und Kreuzfahrtschiff fahren ebenfalls vorbei. Ein Dauergast ist der Viermastbark Passat. Das schwimmende Wahrzeichen von Travemünde genießt am Priwallufer seinen Ruhestand. Nach 39 Kap Hoorn Umsegelungen, zahlreichen Fahrten über die Weltmeere und überstandenen Stürmen hat sich das der Segler verdient.

Segler im Ruhestand: die Passat

Schon als Kind gehörte ich zu den Urlaubern mit Hund in Travemünde, da meine Großeltern hier eine Ferienwohnung hatten und mein Onkel noch immer eine hat. Alex und mein allererster gemeinsamer Kurzurlaub führte uns deshalb ebenfalls hierher. Als wir mit Freunden und ihrer Hündin an dem Hundestrand ankamen, waren schon ein paar mehr Menschen dort als die Male zuvor. Unten an die Steilküste verirrten sich trotzdem nur wenige. Viele Jahre hatte man dort seine Ruhe. Menschen habe ich da nur äußerst selten getroffen. Auf manchen Sparziergängen keinen einzigen. Das ist leider nicht mehr so.

Mit Hund ans Brodtener Steilufer

Bei unserem letzten Besuch im Dezember 2022 war es brechend voll: Während wir an der Steilküste entlang sparzierten, hatten wir stets Menschen im Blick, immer welche im Nacken, überholten oder wurden überholt fast im Minutentakt. Das ist anstrengend, nicht nur für Alex, sondern auch für mich. Ich kann mich nicht so gut erholen, wenn Menschen um mich herum sind, weil sie mich zu sehr ablenken. Alex Angst vor Fremden, erschwert es zusätzlich. Ich versuche, ihm die Begegnungen so angenehm wie möglich zu gestalten und ihm Sicherheit zu geben. Wenn zu viele Menschen um uns herum sind, gelingt mir das aber nur bedingt. Gleiches gilt, wenn freilaufende Hunde auftauchen.

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Wir haben noch keinen Sand unter den Pfoten und Füßen, da erblicke ich schon drei. Sie rennen hin und her. Ihre Menschen scheinen aber zu kapieren, dass wir keinen Kontakt wollen, und sorgen deshalb dafür, dass sie nicht zu uns kommen. Wir können somit einfach daran vorbeigehen, mit mehreren Metern Abstand. Auch wenn es zu keiner direkten Hundebegegnung kommt, schlägt mein Herz schneller und ich merke, dass meine Angst davor noch da ist. Zu oft lief es einfach schief. Von schweren körperlichen Verletzungen blieben wir zum Glück bisher verschont, aber die lauten Auseinandersetzungen mit Pfoten- und Schnauzeneinsatz haben einen gewissen emotionalen Schaden hinterlassen.

Vom Hundestrand Brodtener Steilufer ins Naturschutzgebiet

Alex blickt seine Artgenossen an. Er macht einen kleinen Satz nach vorne, um gleich wieder zurückzugehen. Seine Nacken- und Rückenhaare hat er nicht aufgestellt. Seine Ohren zucken zwischendurch zurück. Er scheint unsicher zu sein: Einerseits möchte er zu den anderen, andererseits nicht. Dann widmet er sich doch wieder dem Gestrüpp am Rand und steckt seine Hundenase tief hinein. Schnüffeln kann ja entspannend wirken. Mich beruhigt hingegen das Schild am Ende des Hundestrands. Nur noch wenige Schritte trennen uns von dem Brodtener Steilufer beziehungsweise von dem Naturschutzgebiet an der Steilküste. Ab dort gilt Leinenpflicht. Auch wenn sich leider nicht alle Hundehalter daranhalten.

Steine und Seetang bedecken den Sand. Irgendwie sieht alles anders aus als in meiner Erinnerung. Normalerweise bestand der Strand doch hauptsächlich aus feinkörnigem Sand statt aus Steinen? Die Höhlen der Uferschwalben sind noch deutlich in den Wänden des Brodtener Steilufers zu sehen. Dazu haben sich aber große Löcher gesellt, deren einstiger Inhalt jetzt zu unseren Füßen liegt: große lehmfarbene Brocken, die Alex gründlich abschnüffelt. Oben in bis zu 20 Metern Höhe hängt manch Baum in gefährlicher Schieflage. Die Warnung „Betreten auf eigene Gefahr“ ist also deutlich sichtbar.

Die Spuren der Sturmflut an der Ostsee

Natürlich verändern die Gezeiten die Küsten, indem sie unter anderem Sand abtragen. Trotzdem, so anders sah es hier noch nie aus, zumindest, soweit ich mich erinnern kann. Erst ein paar Tage später erzählt mir am Hauptstrand ein Wahltravemünder, warum die Steilküste am Brodtener Steilufer so zerstört ist. Im Oktober hat sich die Ostsee an der schleswig-holsteinischen Küste von ihrer wilden Seite gezeigt. Darum türmen sich auch noch Haufen aus Seetang, Steinen, Muscheln und Müll auf dem Kurstrand. Immer wieder fahren Bagger vorbei, um die restlichen Schäden zu beseitigen.

An die Sturmflut hatte ich gar nicht gedacht und in Hessen hatte ich sie tatsächlich nur nebenbei mitbekommen. Die Wände des Brodtener Steilufers erinnern deshalb stellenweise an einen Schweizer Käse, und wir müssen genauer hinschauen, wo wir unsere Füße und Pfoten hinsetzen. Die Ostsee bestätigt damit meine Melancholie, wie unbedeutend wir sind: Gegen die Natur hat der Mensch einfach keine Chance. Und trotzdem beruhigt mich nichts mehr als Meer.

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